Brauchen wir heute noch Werte? – Ein Gespräch über das philosophische Essayschreiben

Jedes Jahr findet im Herbst der Bundes- und Landeswettbewerb zum Schreiben von philosophischen Essays statt. Bei diesem haben Schüler:innen der Sekundarstufe II einen Monat lang Zeit, zu einem Zitat oder einer Fragestellung ihre Gedanken kreativ und argumentativ in einem Essay zu verschriftlichen. (=> Ein Essay ist eine kreative Textform, in der zu einer Fragestellung oder These ein persönlicher Standpunkt argumentativ entfaltet wird.)

In diesem Herbst hat Quinn aus der EF teilgenommen. Wir vom Medien-Team haben sie getroffen und mit ihr ein sehr interessantes Interview über ihre Erfahrungen geführt.

Hallo Quinn, wie bist du zum philosophischen Essayschreiben gekommen? Warum hast du mitgemacht? 

Philosophie gehörte schon seit der ersten Stunde zu meinen Lieblingsfächern, weswegen ich es in der neunten Klasse umso cooler fand, einen philosophischen Essay zu schreiben. Als mich dann Frau Meyer gefragt hat, ob ich nicht nächstes Jahr bei dem Bundeswettbewerb für philosophische Essays mitmachen will (kann man erst ab der SEK II), stieg mein Interesse und ich sah es als Chance, meine Fähigkeiten im Bereich des Essayschreibens weiterzuentwickeln. Außerdem liebe ich Herausforderungen und fand es interessant, mal eine derartige Erfahrung zu machen. 

Was ist das Schöne am philosophischen Essayschreiben? 

Für mich ist philosophisches Schreiben wie ein kleines gedankliches Abenteuer, bei welchem man zunächst nie genau weiß, welchen Weg man geht und wo man am Ende rauskommt. Am schönsten finde ich das Gefühl, plötzlich eine neue Erkenntnis bezüglich eines Themas zu erlangen und dann eine Menge Inspiration zu kriegen, weiterzuschreiben. Es ist einfach toll, sich mit einem fesselnden Thema auseinanderzusetzen! 

Wie hast du dein Thema denn gefunden, bzw. wieso hast du dich gerade für das Thema „Brauchen wir heute noch Werte?“ entschieden? 

Beim Wettbewerb werden immer vier verschiedene Themen vorgegeben, welche sich aus einer philosophischen Fragestellung und drei Zitaten (wo man dann selbst eine Fragestellung formulieren soll) zusammensetzen. Ich habe mich für die Fragestellung "Brauchen wir heute noch Werte?" entschieden, da ich mir sofort einen festen Standpunkt zu der Frage gebildet habe und es mich dann einfach neugierig gemacht hat, warum ich gerade da so fest überzeugt war und was eigentlich hinter meinem spontanen Urteil steckte. Nach näherer Auseinandersetzung mit dem Thema hat es sich als komplexer erwiesen, als ich zuvor dachte, und es wurde dadurch noch interessanter. Auch fand ich schnell einen Ansatz, um auf eine gute These zu kommen. 

Was war die Herausforderung am Schreiben des Essays? 

Am schwierigsten fand ich es, alles zeitlich unter einen Hut zu kriegen, zumal ich viele Hobbys habe und mich natürlich auch auf Klausuren vorbereiten und Hausaufgaben erledigen musste. Da ich so gut wie keine Erfahrung im Essayschreiben hatte, musste ich zunächst das Essayschreiben erlernen und einüben, ehe ich meinen finalen Essay für den Wettbewerb schrieb – und das alles in dreieinhalb Monaten. Hierbei möchte ich mich auch herzlichst bei Frau Meyer bedanken, die mir bezüglich des Essayschreibens viel beigebracht und mich tatkräftig unterstützt hat! Es war auch eine Herausforderung, Klarheit über seine eigenen Gedanken zu gewinnen. Man musste sich sehr intensiv mit dem Thema auseinandersetzen und dann versuchen, seine Gedanken klar und verständlich zu vermitteln. 

Wie hat es dir insgesamt gefallen? 

Obwohl es teilweise sehr stressig wurde, war es im Großen und Ganzen eine echt tolle Erfahrung und ich würde nächstes Jahr definitiv wieder mitmachen. Es war auch sehr schön, den fertigen Essay endlich in den Händen halten zu können und dann das Resultat hochzuladen. Am Ende war ich sogar schon ein bisschen stolz auf meine Entwicklung im Essayschreiben, was mir gezeigt hat, dass sich das Mitmachen auf jeden Fall gelohnt hat! 

Was hast du daraus mitgenommen/gelernt? 

Ich habe gelernt, dass das Essayschreiben viel mehr ist als simples Aufzählen von irgendwelchen Argumenten. Und dass es viel schwieriger ist, als gedacht, alles logisch und präzise auszuführen. Auch konnte ich gezielt an den Schwächen meines Schreibstils arbeiten, was für mich ein großer Gewinn ist.

Würdest du anderen empfehlen, dort auch mitzumachen? 

Ich würde definitiv empfehlen mitzumachen, da es eine echt interessante Erfahrung war und man dabei viel Neues lernen kann! Vor allem möchte ich dabei an alle appellieren, die auch ein großes Interesse an Philosophie hegen und Herausforderungen mögen. Man sollte jedoch im Hinterkopf behalten, dass es zeitintensiv werden kann, wenn man sich da wirklich reinhängt und abliefern will. Umso schöner ist es dann aber, sich den fertigen Essay durchzulesen und diesen dann abzugeben!  

 

 

Quinns Essay kannst du dir hier durchlesen:

 
Brauchen wir heute noch Werte?
 
“Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige”. Dieses Sprichwort kriegt oftmals jener zu hören, der einen verabredeten Zeitpunkt für etwas, sei es eine Deadline für eine Hausarbeit oder die Uhrzeit eines Termins, missachtet. Während in Deutschland “Pünktlichkeit” zu den wichtigsten Werten gehört, ist es zum Beispiel in Lateinamerika nicht unüblich, mehr als 45 Minuten später oder früher zu einer Verabredung zu erscheinen.
 
Werte und ihre Stellung in der Gesellschaft sind nicht nur kulturabhängig, sondern unterliegen auch innerhalb einer Kultursphäre Veränderungen, weil sich die Gesellschaft durch Migration, Emigration und den demographischen Wandel im ständigen Wandel befindet. Es stellt sich nun die Frage, ob wir heute noch Werte brauchen oder ob dieses Konstrukt nicht mehr nötig ist.
 
Einerseits können Werte innerhalb einer Interessengemeinschaft oder Gruppe für eine erfolgreiche Integration verantwortlich sein, andererseits Individuen innerhalb dieser Gruppe determinieren. Innerhalb einer Gesellschaft sind Werte jedoch nötig, damit sie funktionieren kann.
 
Um einen tieferen Einblick in die Thematik zu gewährleisten, werden im weiteren Verlauf des Essays die Vor- und Nachteile von Werten für die Gesellschaft und das Individuum an Beispielen erläutert.
 
Werte sind Ideale bzw. erstrebenswerte und/oder als moralisch gut betrachtete Eigenschaften und Qualitäten. Sie sind die Grundbausteine für Normen, sprich von der Gesellschaft anerkannte Verhaltensregeln und bilden so die allgemeine Zielorientierung hinter diesen konkreten Handlungsvorschriften. Eine Norm ist zum Beispiel “Man soll nicht lügen.”, der dazugehörige Wert ist “Wahrheit”. Die Gesamtheit der von einer Gesellschaft anerkannten Werten und Normen, sprich die Kombination aus Regeln und der Intention hinter diesen Regeln, bildet die Moral.
 
Normen, welche aus verschiedenen Werten entspringen, haben einen großen Vorteil für die Menschheit. Wenn eine Gruppe von Menschen die gleichen Werte vertritt, stellt sie Verhaltensregeln auf, an die sich die Beteiligten halten müssen. Doch Werte sind nicht nur von Vorteilen geprägt. Ein besonders einschneidender Nachteil ist, dass Werte uns Menschen determinieren. Insbesondere die Gesellschaft erwartet vom Individuum ihre Werte zu vertreten und diese auch umzusetzen. Wer sich nicht an die Werte und Normen der Gesellschaft hält, wird von ihr sanktioniert.
 
Wenn eine Gruppe die Macht über einen Staat erlangt, um eine Ideologie zu etablieren, kann es dazu kommen, dass sich diese in der ganzen Gesellschaft etabliert und es zu Fällen wie dem Nationalsozialismus kommen kann. Die einst demokratischen Werte der Gesellschaft tragen in einer Ideologie zur Separation bei. Am Beispiel des Nationalsozialismus kann man sagen, dass man nur dann verschont blieb, wenn man sich angepasst hat. Wer von Grund auf gegen wesentliche Anhaltspunkte wie Religion oder Aussehen verstoßen hat, konnte sich nicht in die Volksgemeinschaft integrieren.
 
Ein anderes Beispiel für Determinismus aufgrund gesellschaftlicher Werte zeigt sich im “Sozialkredit-System” der Volksrepublik China. Um das Einhalten der alten Werte und Normen zu gewährleisten, führte Chinas Regierung das online betriebene Rating bzw. “Social Scoring” ein. Dieser Versuch, die Bevölkerung zu kontrollieren, beruht auf der Vergabe von “Punkten” bei wünschenswertem Verhalten und auf deren Entzug bei negativem Verhalten. Wer das Startkapital von 1000 Punkten überschreitet oder gar das Maximum von 1300 Punkte erreicht, hat zum Beispiel eine erheblich höhere Chance einen Job zu bekommen, als jemand mit einer Punktebilanz unter dem Wert von 1000.
 
Beide Beispiele zeigen den von Werten verursachten Determinismus, da man erst den vollen Respekt und die Akzeptanz von Personengruppen erhält, wenn man ihre Werte erfüllt und es einem keine andere Wahl lässt, als sich anzupassen. Werte determinieren uns also nicht nur, sondern lassen uns auch nach einem ideologischen Idealbild des Menschen streben. Einem Idealbild, welchem man nicht vollständig gerecht werden kann.
 
Da wir Menschen alle in einer bestimmten Kultursphäre aufwachsen, werden uns die Werte der Kultur und das Idealbild des Menschen von klein auf vermittelt. Setzen wir die Normen, die aus den Werten entspringen, um, werden wir gelobt und von der Gesellschaft akzeptiert. Stellen wir uns gegen die Normen, so werden wir bestraft und ausgeschlossen. Um nun nicht mehr auf unserer Handlungsebene determiniert zu sein, müsse man das Konzept von Werten und Normen innerhalb einer Gesellschaft eliminieren. Doch wie könnte man sich eine Gesellschaft ohne Werte vorstellen? Gäbe es keine von einer Gesellschaft anerkannten Werte, so würde es auch keine Normen geben. Es gäbe also keine Handlungsvorschriften nach denen wir uns richten müssten. Wenn jedoch nicht festgelegt ist, welche Handlungen als wünschenswert und welche als verwerflich zu betrachten sind, gibt es keine Grundlage, um ein Gesetz, welches das Hauptmerkmal einer funktionierenden Gesellschaft schlechthin ist, zu bilden.
 
Wenn sich eine Gruppe aus Individuen wünscht, respektvoll behandelt zu werden und in Sicherheit zu leben, und darauf eine Gesellschaft formt, etablieren sich die Werte “Respekt” und “Sicherheit” automatisch, da alle Mitglieder dieser Gesellschaft diese Werte aus eigener Überzeugung vertreten. Deshalb bilden sich daraus Normen, welche in Form eines Gesetzes manifestiert werden. Nach diesem Prinzip haben sich auch andere kulturprägende Werte etabliert, ohne zwangsläufig gesetzbildend zu sein, sondern nur dem Zusammenhalt der Gemeinschaft dienend.
 
Selbst eine Anarchie, eine Gesellschaftsform, die kein Gesetz in Form eines Gesetzbuches hat, beruht nach Immanuel Kant darauf, dass sich die Mitglieder einer anarchistischen Gesellschaft an bestimmte Regeln des Zusammenlebens, nicht aus Zwang, sondern aus eigener Überzeugung halten. Dies sehen die Vertreter des Anarchismus als höchste Form der Moral an, da die Mitglieder einer solchen Gesellschaft freiwillig, sprich nach ihren eigenen Werten, handeln und es keinen Staat gibt, der auf diese Menschen Druck ausübt. Da Werte die Motive hinter den Handlungen und Denkweisen von Menschen sind, existiert kein Mensch ohne Werte. Eine Gesellschaft ohne Werte würde scheitern, da keine Motive hinter Handlungen stünden, was die Handlung einer Staatsgründung sinnlos erscheinen lässt. Sie würde so den Besitz von Werten, einem der wichtigsten menschlichen Merkmale schlechthin, ablehnen. So wird deutlich, dass es bei der Begründung einer Gesellschaft unumgänglich ist, Werte mit einzubinden, da jedes Individuum zwangsläufig eigene Werte besitzt, deren Präsenz nicht ignoriert werden kann.
 

 

Genau diese Notwendigkeit von Werten für die Begründung einer Gesellschaft ist der Grund, weshalb wir Menschen Werte nicht nur brauchen, sondern regelrecht an diese gebunden sind, da wir eine Gesellschaft benötigen, um zu überleben. Der Mangel an natürlichen Waffen, welchem wir seit unserer Geburt ausgesetzt sind, lässt uns keine andere Wahl, als uns zusammenzutun und mit gemeinsamen Kräften zu versuchen, diesen Mangel durch Innovation auszugleichen. Wir sind Wesen, welche sich stetig weiterentwickeln wollen und dies auch tun, im Zuge dessen fragen wir uns dann aber auch manchmal, ob wir das Konzept von Werten grundsätzlich noch brauchen. Das Beantworten dieser Frage hat uns gezeigt, dass Werte schon immer ein fester Bestandteil unseres Lebens waren und auch in Zukunft sein werden. Es hat sich gezeigt, dass Werte untrennbar vom Menschen sind. Man sollte sich aber nicht davor scheuen, Werte innerhalb einer Gesellschaft oder Gruppe zu hinterfragen, da eine Veränderung fester Strukturen der Schlüssel zur Weiterentwicklung seiner Selbst und der Gemeinschaft sein kann, zumal sie uns davor schützen unhinterfragt in den Wertekanon einer Gesellschaft aufzunehmen und somit der Etablierung kontraproduktiver Staatsformen Raum zu geben.

 

 

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